Einleitung: Fachliche Kulturen im Dialog
Die Gestaltung effektiver Prävention und Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche stellt Kommunen vor große Herausforderungen. Dabei treffen nicht selten unterschiedliche fachliche Kulturen aufeinander, insbesondere wenn strukturierte, evidenzbasierte Ansätze aus dem Public-Health-Bereich, wie „Communities That Care“ (CTC), auf die Prinzipien und Arbeitsweisen der Sozialen Arbeit und Jugendhilfe treffen. Dieses Spannungsfeld manifestiert sich oft in einer Reihe von Kritikpunkten seitens der sozialpädagogischen Praxis gegenüber standardisierten Präventionssystemen.
Häufig geäußerte Bedenken betreffen die vermeintliche Vernachlässigung der Individualität und Lebenswelt der Adressat:innen durch standardisierte Erhebungen und Interventionen. Kritisiert wird oft ein potenzieller Fokus auf Defizite und Risiken, der dem ressourcenorientierten Ansatz der Sozialen Arbeit entgegensteht – beispielhaft sichtbar in der Debatte um die Bedeutung unbeaufsichtigter Freiräume für die Autonomieentwicklung versus deren potenzielle Risiken. Des Weiteren wird die Partizipation und das Empowerment der Zielgruppen in Frage gestellt, wenn Prozesse und Maßnahmen stark vorstrukturiert erscheinen. Auch die Gefahr einer „Technokratisierung“ der Prävention, bei der die Bedeutung der professionellen Beziehung und des pädagogischen Takts hinter messbaren Outcomes und Manualtreue zurückzutreten scheint, wird thematisiert (vgl. Raithel, 2011, S. 317 zu Technologiedefizit).
Dieser Artikel analysiert dieses Spannungsfeld und argumentiert, dass viele der wahrgenommenen Widersprüche zwischen evidenzbasierten Ansätzen wie CTC und sozialpädagogischen Prinzipien auf einer differenzierten Betrachtung beider Seiten und insbesondere des CTC-Prozesses selbst aufgelöst werden können. Basierend auf entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, sozialisationstheoretischen Modellen und der spezifischen Methodik von CTC wird dargelegt, dass der Ansatz nicht nur mit sozialpädagogischen Zielen kompatibel ist, sondern ein wertvolles Werkzeug darstellen kann, um die positive Entwicklung Jugendlicher evidenzbasiert, partizipativ und kontextsensitiv zu fördern. Die Argumentation stützt sich dabei auf einschlägige Fachliteratur.
Die Perspektive der Sozialen Arbeit: Lebenswelt, Ressourcen, Partizipation
Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist durch spezifische Prinzipien und Haltungen geprägt:
- Lebensweltorientierung: Im Zentrum steht der einzelne junge Mensch in seiner spezifischen Lebenswelt mit seinen individuellen Bedürfnissen, Erfahrungen und Deutungsmustern. Interventionen sollen an dieser Lebenswelt anknüpfen und sie berücksichtigen (vgl. Raithel, 2011, S. 67 ff. zum produktiv realitätsverarbeitenden Subjekt). Standardisierte Ansätze können hier als reduktionistisch erscheinen.
- Ressourcenorientierung: Der Fokus liegt auf den Stärken und Potenzialen der Jugendlichen und ihres Umfelds, nicht primär auf Defiziten oder Risiken. Prävention soll Entwicklungschancen eröffnen und Schutzfaktoren stärken (vgl. Raithel, 2011, S. 139 zum Empowerment-Konzept). Ein reiner Risiko-Fokus wird kritisch gesehen. Die Forderung nach „unbeaufsichtigten Freiräumen“ kann als Wunsch interpretiert werden, Entwicklungsräume vor einer Pathologisierung durch die „Risikobrille“ zu schützen.
- Partizipation und Empowerment: Jugendliche und ihre Familien sollen als Expert:innen ihrer eigenen Lebenslage ernst genommen und aktiv in Hilfe- und Planungsprozesse einbezogen werden. Ziel ist die Stärkung ihrer Handlungskompetenz und Selbstbestimmung (vgl. Lohaus, 2018, S. 311-312 zu fachlichen Eckwerten der Jugendhilfe). Top-Down implementierte Programme können diesem Anspruch zuwiderlaufen.
- Beziehung als Medium: Die professionelle Beziehung zwischen Fachkraft und Adressat:in gilt als zentrales Medium pädagogischen Handelns. Vertrauen, Empathie und Aushandlungsprozesse sind entscheidend für den Erfolg (vgl. Raithel, 2011, S. 317). Evidenzbasierte Programme könnten diesen Aspekt vernachlässigen.
Aus dieser Perspektive erscheinen strukturierte, datengesteuerte Ansätze wie CTC potenziell problematisch, wenn sie als unflexibel, defizitorientiert, fremdbestimmt und beziehungsfeindlich wahrgenommen werden.
Communities That Care (CTC): Positive Jugendentwicklung – mehr als nur Risiko-Management
Eine genauere Betrachtung des CTC-Ansatzes zeigt jedoch, dass er viele der sozialpädagogischen Anliegen aufgreift oder zumindest mit ihnen kompatibel ist:
- Stärkung von Schutzfaktoren und positiver Entwicklung: CTC basiert nicht nur auf der Identifikation von Risikofaktoren, sondern ebenso auf der Erfassung und Stärkung von Schutzfaktoren (Walter et al., 2023). Das zugrundeliegende Social Development Model (SDM) fokussiert explizit auf die Schaffung positiver Entwicklungsbedingungen durch Gelegenheiten, Kompetenzförderung und Anerkennung (Center for Communities That Care [CTC], 2014, S. 7). Das Ziel ist nicht nur die Verhinderung von Problemen, sondern die Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden im Sinne der Salutogenese (vgl. Raithel, 2011, S. 139).
- Partizipation und Community Empowerment: CTC ist seinem Wesen nach ein partizipativer Prozess. Die lokale Koalition („Gebietsteam“), bestehend aus Vertreter:innen verschiedenster Bereiche (inkl. Jugendhilfe, Schulen, Eltern, Jugendliche), trifft die zentralen Entscheidungen über Prioritäten und Maßnahmen (Röding et al., 2022; Walter et al., 2023). Der gesamte Prozess zielt auf den Aufbau von Community Capacity ab – also die Fähigkeit der Gemeinde, Prävention selbst zu gestalten und zu tragen. Dies ist eine Form des Empowerments auf kommunaler Ebene (Birgel et al., 2024).
- Kontextsensibilität durch lokale Daten und Interpretation: Der standardisierte Survey liefert zwar die Daten, aber deren Bedeutung wird lokal interpretiert. Das Gebietsteam analysiert die Ergebnisse vor dem Hintergrund der spezifischen kommunalen Lebenswelt, diskutiert die Relevanz der Faktoren und berücksichtigt lokales Wissen (Röding et al., 2022). Die Datenerhebung dient als Ausgangspunkt für einen informierten Dialog, nicht als alleinige Entscheidungsgrundlage. Kritik an einzelnen Items kann und soll in diesem Interpretationsprozess berücksichtigt werden.
- Evidenzbasierung als Qualitätsmerkmal, nicht als Dogma: Die Auswahl evaluierter Programme soll sicherstellen, dass Maßnahmen wirksam sind und Ressourcen sinnvoll genutzt werden (Walter et al., 2023). Dies schließt sozialpädagogische Interventionen nicht aus, sofern deren Wirksamkeit belegt ist. Zudem bietet die „Grüne Liste Prävention“ eine Bandbreite an Programmen, aus denen das Gebietsteam die für den lokalen Kontext passendsten auswählen kann. Viele dieser Programme arbeiten beziehungsorientiert und partizipativ. Die Evidenzbasierung bezieht sich auf das Was (welches Programm?), nicht unbedingt auf das Wie der konkreten pädagogischen Umsetzung, die weiterhin Fachkompetenz erfordert.
- Adressierung sozialer Determinanten: Die Risiko- und Schutzfaktoren, die CTC erfasst, umfassen auch soziale und ökonomische Bedingungen im Wohnumfeld, in der Schule und in der Familie (Reder et al., 2024; Walter et al., 2023), also jene strukturellen Faktoren, deren Bedeutung auch in sozialpädagogischen und soziologischen Analysen (z.B. Raithel, 2011, S. 84 ff.) betont wird. CTC ermöglicht es, diese Faktoren lokal sichtbar zu machen und Interventionen zu planen, die auf ihre Veränderung abzielen (Verhältnisprävention).
Brücken bauen: Synergien zwischen CTC und Sozialer Arbeit
Die Gegenüberstellung zeigt, dass die scheinbaren Widersprüche oft auf einer verkürzten Wahrnehmung des CTC-Ansatzes beruhen. CTC ist kein starres, rein technisches Verfahren, sondern ein komplexer, sozialer Prozess, der Raum für lokale Anpassung, Partizipation und die Integration unterschiedlicher fachlicher Expertisen bietet.
- Von der Risiko- zur Chancenorientierung: CTC kann helfen, den Blick zu weiten. Die Analyse von Risikofaktoren ermöglicht es, Unterstützungsbedarfe gezielt zu erkennen, auch dort, wo sie nicht offensichtlich sind. Gleichzeitig lenkt der Fokus auf Schutzfaktoren und das SDM den Blick auf Ressourcen und positive Entwicklungspotenziale. Eine Kombination beider Perspektiven ermöglicht eine umfassende Sicht auf die Lebenslagen Jugendlicher.
- Daten als Dialoggrundlage: Die lokalen Survey-Daten können eine wertvolle Grundlage für den fachlichen Dialog zwischen verschiedenen Professionen und mit der Gemeinschaft bilden. Sie helfen, subjektive Eindrücke zu objektivieren, gemeinsame Problemdefinitionen zu finden und Prioritäten transparent zu setzen. Dies kann sozialpädagogische Arbeit informieren und legitimieren.
- Evidenz als Beitrag zur Professionalisierung: Die Auseinandersetzung mit evidenzbasierten Programmen kann die sozialpädagogische Praxis bereichern und zur Weiterentwicklung von Qualitätsstandards beitragen. Umgekehrt kann die sozialpädagogische Expertise helfen, EBPs kontextsensitiv zu implementieren und ihre Akzeptanz zu erhöhen.
- Stärkung kommunaler Strukturen: Der Aufbau einer funktionierenden CTC-Koalition stärkt die für die Soziale Arbeit essenzielle Vernetzung und Kooperation auf kommunaler Ebene (Röding et al., 2024). Dies fördert Synergien und eine kohärentere Präventionslandschaft.
Fazit: Ein Plädoyer für die Zusammenarbeit
Die Implementierung von CTC in Kommunen erfordert einen offenen Dialog zwischen den beteiligten Akteuren und Fachkulturen, der Bedenken ernst nimmt und im Prozess adressiert. Gleichzeitig bietet CTC durch seine Struktur, seine Datenbasis und seinen Fokus auf Kooperation und Evidenz eine Chance, die kommunale Prävention und Jugendhilfeplanung weiterzuentwickeln.
Anstatt CTC und sozialpädagogische Ansätze als unvereinbare Gegensätze zu betrachten, sollte das Potenzial ihrer Synergie genutzt werden. CTC kann als methodischer Rahmen dienen, um sozialpädagogische Ziele – wie die Förderung von Autonomie, Teilhabe und Wohlbefinden in spezifischen Lebenswelten – datengestützt und evidenzbasiert (und damit sozial gerechter und wirksamer) zu verfolgen. Gelingt dieser Dialog und die Integration der Perspektiven, entsteht ein Präventionssystem, das sowohl wissenschaftlich fundiert als auch lebensweltnah und partizipativ ist – zum Wohle der jungen Menschen.
Literatur
Birgel, V., Röding, D., & Walter, U. (2024). Community Capacity für Gesundheitsförderung: Ergebnisse der CTC-EFF-Studie. Public Health Forum, 32(3), 181–185. https://doi.org/10.1515/pubhef-2024-0071
Center for Communities That Care. (2014). CTC Training of Facilitators. University of Washington.
Lohaus, A. (Hrsg.). (2018). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-55792-1
Oesterle, S., Kuklinski, M. R., Hawkins, J. D., Skinner, M. L., Guttmannova, K., & Rhew, I. C. (2018). Long-Term Effects of the Communities That Care Trial on Substance Use, Antisocial Behavior, and Violence Through Age 21 Years. American Journal of Public Health, 108(5), 659–665. https://doi.org/10.2105/AJPH.2018.304320
Raithel, J. (2011). Jugendliches Risikoverhalten: Eine Einführung (2., überarb. Aufl.). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94066-3
Reder, M., Runge, R. A., Schlüter, H., & Soellner, R. (2024). The German Communities That Care Youth Survey: Dimensionality and validity of risk factors. Frontiers in Public Health, 12, 1472347. https://doi.org/10.3389/fpubh.2024.1472347
Resch, F., & Parzer, P. (2022). Risikoverhalten und Selbstregulation bei Jugendlichen: Eine kybernetische Sichtweise. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-031-15455-3
Röding, D., Reder, M., Soellner, R., Birgel, V., Stolz, M., Groeger-Roth, F., & Walter, U. (2022). Evaluation des wissenschaftsbasierten kommunalen Präventionssystems Communities That Care: Studiendesign und Baseline-Äquivalenz intermediärer Outcomes. Prävention und Gesundheitsförderung, 18, 316–326. (Online veröffentlicht 2022). https://doi.org/10.1007/s11553-022-00972-y
Röding, D., von Holt, I., Decker, L., Ünlü, S., & Walter, U. (2024). Kommunale Gesundheitskompetenz und kommunale Kapazitätsentwicklung. Prävention und Gesundheitsförderung, 19(4), 512–520. https://doi.org/10.1007/s11553-024-01143-x
Walter, U., Groeger-Roth, F., & Röding, D. (2023). Evidenzbasierte Prävention für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: Der Ansatz „Communities That Care“ (CTC) für Deutschland. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 66(7), 774–783. https://doi.org/10.1007/s00103-023-03725-0
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